
Inmitten des Zweiten Weltkriegs, als dessen Ausgang noch sehr ungewiss schien, schrieben drei politische Gefangene, die von Mussolinis Regime auf die italienische Insel Ventotene verbannt worden waren, den visionären Entwurf des Manifests „Für ein freies und einiges Europa“. Sie konnten den Text aus dem Gefängnis schmuggeln. Einige Zeitgenossen, die dieses Dokument dann lasen, fanden es vielleicht unzeitgemäß, da es sich nicht auf die unmittelbarere Herausforderung des Kampfes gegen die faschistischen Regime Deutschlands und Italiens konzentrierte, die große Teile Europas besetzt hielten. Letztendlich wurde das Manifest jedoch zu einem Eckpfeiler des EU-Integrationsprozesses. Ohne die Bedeutung der Sicherung unserer Energieversorgung für den nächsten Winter zu vernachlässigen, müssen auch wir noch weiter nach vorne schauen.
In den ersten Wochen des russischen Krieges gegen die Ukraine wurde die Klimafrage aus den Schlagzeilen verdrängt. Aber die Klimakrise lässt nicht nach und wird die Menschheit noch lange nach dem Ende des Putin-Regimes beschäftigen. In den kommenden Wochen und Monaten könnte der Ruf laut werden, die Klimapolitik in diesen Krisenzeiten zurückzudrängen. Die langfristige Energiesicherheit Europas hängt jedoch in hohem Maße vom Erfolg der Energiewende ab. Denn eine ehrgeizige Klimapolitik ist nur möglich, wenn die Abhängigkeit der EU von importierten fossilen Brennstoffen massiv reduziert wird.
Zwei gute Nachrichten
Dennoch wird eine klimaneutrale EU selbst unter optimistischen Annahmen wahrscheinlich immer noch auf erhebliche Mengen an Energieimporten angewiesen sein, insbesondere auf Wasserstoff und seine Derivate wie synthetische Kraftstoffe und Ammoniak. Die aktuelle Studie „Wasserstoffimportsicherheit für Deutschland: Zeitliche Entwicklung, Risiken und Strategien auf dem Weg zur Klimaneutralität“, die ich gemeinsam mit Experten des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG) und adelphi-Consultant Jens Honnen verfasst habe, untersucht, wie die sich verändernde Risikolandschaft am besten bewältigt werden kann, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Obwohl sich die Studie auf Deutschland konzentriert, treffen einige ihrer Erkenntnisse auch auf die gesamte EU zu.
Es gibt zwei gute Nachrichten: Erstens wird die Abhängigkeit der EU von Importen fossiler Brennstoffe sehr schnell abnehmen, wenn wir schnelle Fortschritte bei der Erreichung unserer Klimaziele machen. Sicherlich werden immer mehr industrielle Prozesse und vor allem die Notstromerzeugung allmählich auf (teilweise importierten) Wasserstoff angewiesen sein – womit auch Importrisiken verbunden sind. Die zweite gute Nachricht ist jedoch, dass diese Risiken nicht nur vom Umfang her, sondern auch qualitativ geringer sein werden als heute. Das liegt unter anderem daran, dass die weltweiten Ressourcen an grünem Wasserstoff (hauptsächlich Wind und Sonne) gleichmäßiger verteilt sind als die Ressourcen an fossilen Brennstoffen.
Eine Zukunftsstrategie
Wie dem auch sei, Wasserstoff-Importrisiken werden auftauchen und sich teilweise von heutigen Risiken unterscheiden. Wir sollten uns darauf vorbereiten. Eine vorausschauende Strategie, die die Risiken von Wasserstoffeinfuhren bewältigt, stützt sich auf vier Säulen:
- Die Nachfrage nach Wasserstoffimporten begrenzen, indem Verbesserungen in den Bereichen Energiesuffizienz, Energieeffizienz, Elektrifizierung und Einsatz erneuerbarer Energien forciert werden. Letzteres bildet auch die Grundlage für die heimische Produktion von grünem Wasserstoff.
- Die Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit von Wasserstoffimporten sicherstellen, einschließlich seiner Derivate. Unter anderem durch die Diversifizierung der Wasserstoffimportquellen und Transportwege. Während Einfuhren über Pipelines aus benachbarten Regionen wahrscheinlich billiger sind, kann eine übermäßige Abhängigkeit von einigen wenigen Pipeline-Routen die geopolitischen Risiken erhöhen. Außerdem ist der Bau neuer oder die Umstellung bestehender Pipelines von Methan auf Wasserstoff zeitaufwendig und erfordert die Zusammenarbeit vieler Akteur*innen in mehreren Ländern. Daher wird die EU davon profitieren, wenn sie gleichzeitig Handelsbeziehungen und die notwendige Infrastruktur aufbaut, um Wasserstoff oder seine Derivate per Schiff einzuführen.
- Nachhaltigkeit von Wasserstoffimporten gewährleisten: Da der Klimaschutz der Hauptgrund für die Förderung von Wasserstoff durch die EU ist, muss unbedingt sichergestellt werden, dass Wasserstoffimporte tatsächlich zu diesem Ziel beitragen. Daher sollten die Kriterien, die die EU derzeit zur Definition von erneuerbarem und kohlenstoffarmem Wasserstoff annimmt, auch auf Importe angewendet werden. Dies gilt auch für die Bestimmungen der vorgeschlagenen EU-Verordnung zur Reduzierung von Methanemissionen im Energiesektor.
- Die Anfälligkeit der EU für Beschränkungen bei der Einfuhr von Wasserstoff kann verringert werden, indem Investitionen in ausreichende Wasserstoffspeicherkapazitäten ermöglicht werden, eine strategische Wasserstoffreserve geschaffen wird, Vorbereitungen für eine rasche Skalierbarkeit der heimischen Wasserstoffproduktion getroffen werden, die Fähigkeit von Verbraucher*innen, auf alternative Brennstoffe umzustellen, unterstützt wird, wo dies möglich ist, und nicht zuletzt gut durchdachte Notfallpläne verabschiedet werden, die regeln, wie bei akuten Versorgungsengpässen zu verfahren ist.
Internationale Zusammenarbeit
Während des Aufbaus der Wertschöpfungskette und der Versorgungswege für künftige Importe von grünem Wasserstoff in großem Maßstab müssen die Einfuhrländer ein Gleichgewicht zwischen internationaler Zusammenarbeit und Wettbewerb um die besten grünen Wasserstoffressourcen finden. Die meisten der oben genannten Maßnahmen werden wahrscheinlich positive Synergien für alle Wasserstoff importierenden Länder schaffen.
Einige von ihnen könnten jedoch als Nullsummenspiel interpretiert werden, bei dem die Sicherheit der Wasserstoffeinfuhren eines Landes durch die Begrenzung der Einfuhren eines anderen Landes verbessert wird. Angesichts einer Welt, die Klimaneutralität anstrebt, ist ein solcher Ansatz fragwürdig: Welchen Sinn hätte es, die knappen grünen Wasserstoffressourcen für ein Land zu sichern, wenn andere Länder immer noch die Möglichkeit haben, auf fossile Brennstoffe zurückzugreifen?
Die Bewältigung der Klimakrise kann nur auf internationaler Ebene erfolgreich sein. Daher sollten Deutschland und andere Importländer auf Zusammenarbeit setzen und ihre Aktivitäten insbesondere innerhalb der Europäischen Union koordinieren.
Text und Kontakt: Raffaele Piria, Senior Advisor und Co-Lead Energy bei adelphi
Eine englische Fassung dieses Berichts ist zuerst am 29. März 2022 bei Euractiv erschienen.