
Die Ressourcen unserer Erde werden von Jahr zu Jahr schneller abgebaut. Gleichzeitig belegen zahlreiche Statistiken eine wachsende Ungleichheit – trotz Wirtschaftswachstum. Dennoch wird Letzteres nach wie vor als Schlüssel für mehr Wohlstand angeführt. Grund sind unter anderem die zugrunde liegenden ökonomischen Modelle, deren Prognosen sich trotz der Entwicklung alternativer Wohlfahrtsmaße zumeist auf rein wirtschaftliche Kennzahlen beschränken.
Im Rahmen eines Expertenworkshops, an dem unter anderem Vertreter der europäischen Kommission, der OECD und des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) in Deutschland teilnehmen, geht adelphi gemeinsam mit anderen Forschungsinstituten der Frage nach, wie alternative Indikatoren für Umwelt und Wohlfahrt besser in ökonomische Modelle und damit auch in die wirtschaftliche Berichterstattung integriert werden können. Den Auftakt zu unserem Workshop am Dienstag bildet ein Vortrag von Prof. Dr. Tim Jackson mit dem Titel "Economics as story-telling: the power and limitation of models" am Montag, den 7. Mai 2018.
Bereits vorab sprach Tim Jackson mit uns über wichtige Fragen alternativer Wohlstandsindikatoren und erklärte, warum wir ökonomische Modelle stets kritisch betrachten sollten.
In Deutschland kennt man Sie vor allem über Ihr Buch “Wohlstand ohne Wachstum”. Sie argumentieren darin für einen Wohlstandsbegriff, der nicht vom Wachstum der Wirtschaft abhängig ist. Wie könnte eine solche prosperierende und vom Wirtschaftswachstum unabhängige Gesellschaft aussehen?
Tim Jackson: Was bedeutet Wohlstand in einer Welt, die durch natürliche und soziale Grenzen gekennzeichnet ist? Diese Frage fasziniert mich und hat mich mein gesamtes Arbeitsleben hindurch begleitet. Können unsere Volkswirtschaften wirklich dauerhaft exponentiell wachsen? Wie kann das funktionieren, ohne dass wir dabei unseren Planeten komplett zerstören? Und wie können wir in angemessenen Verhältnissen leben und gleichzeitig gewährleisten, dass jeder auf dieser Welt die Chance auf ein würdiges Leben hat? In meinem Buch Wohlstand ohne Wachstum habe ich versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Es ist offensichtlich, dass Wohlstand über materielle Bedürfnisse hinausgeht. Wohlstand hat etwas mit Lebensqualität zu tun, mit Gesundheit und dem Glück unserer Familien. Er zeigt sich in der Stärke unserer Beziehungen und in unserem Vertrauen in die Gemeinschaft. Zufriedenheit am Arbeitsplatz erzeugt Wohlstand ebenso wie das Gefühl, dass unser Dasein einen gemeinschaftlichen Sinn und Zweck hat. Wohlstand hängt von unseren Möglichkeiten ab, als vollwertiges Mitglied am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, und entsteht aus unserer Fähigkeit heraus, uns – innerhalb der ökologischen Grenzen unseres endlichen Planeten – individuell entfalten zu können. Das ist das Wohlstandsverständnis, auf dem die Wirtschaft von morgen fußen sollte.
In Ihrem heutigen Vortrag werden Sie darüber sprechen, wie Ökonomen als „Geschichtenerzähler“ wahrgenommen werden können. Was bedeutet das für die Interpretation ökonomischer Modelle? Und welche Rolle spielen ökonomische Modelle bei der Erreichung einer nachhaltigeren Zukunft?
Tim Jackson: Ökonomen als Geschichtenerzähler zu betiteln hat nicht zum Zweck, ihre Arbeit schlechtzumachen oder sie zu beleidigen. Geschichten sind von großer Bedeutung für uns. Mythen und Erzählungen lenken und beeinflussen unser Leben. Ohne sie verlieren wir die Orientierung. Das trifft auf uns als Einzelpersonen wie auch auf uns als Gesellschaft zu. Jede Gesellschaft baut auf einem kulturellen Mythos auf. Unser Mythos ist der Mythos des Wirtschaftswachstums. Wir haben uns das letzte halbe Jahrhundert lang gegenseitig immer wieder die Geschichte erzählt, dass alles gut werden würde, solange das Bruttoinlandsprodukt (BIP) steigt. Das Leben unserer Kinder würde besser und schöner sein. Und selbstverständlich würde das Wachstum auch sozialen Fortschritt mit sich bringen.
"Wir sollten die Mythen, nach denen wir leben, kontinuierlich hinterfragen"
Aber diese Geschichte baut auf der Annahme auf, dass „mehr“ stets besser ist. Doch diese Annahme trifft in vielerlei Hinsicht nicht zu. Ein ständiges „Mehr“ ist ebenso oft schlecht für uns (und die Menschen um uns herum) wie dass es uns Nutzen bringt. Zu viel Zucker in der Nahrung unserer Kinder hat dazu geführt, dass eine besorgniserregende Anzahl von Kindern von starkem Übergewicht betroffen ist. Zu viel Kohlenstoff in der Atmosphäre führt zu einem vom Menschen verursachten Klimawandel mit gefährlichen Folgen. Diese Parallele ist kein Zufall. Beides baut auf dem Narrativ auf, das besagt, dass sozialer Fortschritt durch Wachstum erreicht wird. Unsere Herausforderung ist es nun, eine neue Geschichte zu finden und den Wachstumsmythos neu zu erzählen. Aber selbst, wenn es so aussieht als hätten wir eine neue Geschichte gefunden, sollten wir auch dieser Geschichte gegenüber immer kritisch bleiben. Wir sollten die Mythen, nach denen wir leben, kontinuierlich hinterfragen. Ökonomische Modelle können uns dabei helfen. Denn Modelle können uns dabei unterstützen, Geschichten offenzulegen – und diese zu überprüfen.
Was ist die größte Herausforderung, der wir aktuell gegenüberstehen? Was ist es, das uns daran hindert, das Ruder herumzureißen und unsere Gesellschaften in eine nachhaltigere Zukunft zu navigieren?
Tim Jackson: Ich denke, unsere größte Herausforderung ist es, den Gedanken zu überwinden, dass wir nichts tun können, dass die Dinge sein müssen, wie sie sind. Dass es, wie es einst Margaret Thatcher ausdrückte, „keine Alternative gibt“. In meinem Buch Wohlstand ohne Wachstum wollte ich den Mythos des nicht zu sättigenden Konsumenten erkunden und durch ein überlegtes, mitfühlendes Menschenbild ersetzen. Ich wollte das Narrativ eines widersprüchlichen und machtlosen Staates dekonstruieren und durch die Vision eines dynamischen und progressiven Staates ersetzen. Damit möchte ich zeigen, dass eine andere Art Wirtschaft nicht nur möglich ist, sondern bereits rund um uns herum entwickelt wird.
In der 2. Ausgabe meines Buches beleuchte ich die Dimensionen dieser neuen Wirtschaft näher: das Wesen des Unternehmens, die Qualität der Arbeitswelt, die Finanzinstitutionen und die Rolle des Geldes. Ich habe dabei versucht zu zeigen, wie diese Dimensionen so gestaltet werden können, dass Beschäftigung erhalten bleibt, soziale Investitionen stattfinden, Ungleichheit abnimmt und sowohl ökologische als auch finanzielle Stabilität gewährleistet werden kann. In diesem Prozess ist mir folgendes bewusst geworden: Die Grundlagen für eine Wirtschaft von morgen zu legen ist eine konkrete, definierbare, pragmatische und sinnvolle Aufgabe.
Tim Jacksons Vortrag findet am 7. Mai 2018 um 18:00 Uhr im Haus des Bevollmächtigten der EKD in Berlin, Charlottenstraße 53-54 im großen Saal, statt. Weitere Informationen und Anmeldung hier.